SPIEGEL: Frau Giffey, jeden zweiten bis dritten Tag wird in Deutschland eine Frau vom Partner oder Ex-Partner getötet. Sind Männer hierzulande besonders gewalttätig?
Dr. Franziska Giffey: In jedem Land gibt es gewalttätige Menschen, das ist kein typisch deutsches Problem.
SPIEGEL: Die Opferzahlen häuslicher Gewalt steigen seit Jahren.
Dr. Franziska Giffey: Sie sind zumindest gleichbleibend hoch. Wir werden am Dienstag die Auswertung des Bundeskriminalamts zur Partnerschaftsgewalt für 2017 veröffentlichen. Demnach gab es vergangenes Jahr 138.893 Opfer von häuslicher Gewalt, davon 113.965 Frauen, also 82 Prozent. In 147 Fällen wurde eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet.
SPIEGEL: Das ist ein Sprung im Vergleich zu 2016, als 109.000 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt wurden.
Dr. Franziska Giffey: Das stimmt, aber das erklärt sich vor allem dadurch, dass neue Kategorien von Gewalt in die Statistik aufgenommen wurden. Zum Beispiel Freiheitsberaubung, Zwangsprostitution und Zuhälterei. Rechnet man die heraus, ist der Anteil nahezu stabil. Generell kann ein Anstieg von Zahlen auch bedeuten, dass mehr Taten angezeigt werden. Das wäre eine gute Nachricht.
SPIEGEL: Man hat zuletzt viel von Frauenmorden durch Migranten gelesen. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Zahlen zur häuslichen Gewalt und der gestiegenen Einwanderung?
Dr. Franziska Giffey: Beim Thema Partnerschaftsgewalt liegt der Anteil deutscher Staatsangehöriger unter den Tatverdächtigen laut Statistik bei knapp 68 Prozent. Das Problem geht durch alle gesellschaftlichen Schichten und alle ethnischen Hintergründe. Die Einzelberichterstattung zeichnet oft ein anderes Bild. Wenn man die Zeitung liest, hat man manchmal das Gefühl, nur Flüchtlinge und Migranten verprügeln und töten ihre Frauen, weil diese Fälle immer ganz groß dargestellt werden.
SPIEGEL: In Spanien gingen Frauen massenweise auf die Straße, um gegen die "Macho-Gewalt" zu protestieren. Wo bleibt der deutsche Aufstand?
Dr. Franziska Giffey: Das frage ich mich auch manchmal. Dass quasi montags, donnerstags und sonntags eine Frau von ihrem Partner umgebracht wird, ist in einem modernen Land wie Deutschland eine unvorstellbare Größenordnung. Aber es gibt ja durchaus Debatten darüber. Wir wollen mit unseren Maßnahmen auch dazu beitragen, das Thema noch stärker öffentlich zu machen.
SPIEGEL: Politikerinnen und Politiker sind in der Pflicht, das Thema auf die Tagesordnung zu bringen. In anderen Ländern reden sie von Femiziden - die Bundesregierung möchte das nicht. Ist es nicht Zeit, die Sache beim Namen zu nennen?
Dr. Franziska Giffey: Das Wort bringt zum Ausdruck, dass Frauen aufgrund ihres Frauseins ermordet werden. Der Begriff Femizid wird fachlich diskutiert. In der Öffentlichkeit kennt den aber kaum jemand. Mir geht es darum, dieses Problem so klar zu benennen, dass es alle verstehen.
SPIEGEL: Sagen Sie doch Frauenmorde.
Dr. Franziska Giffey: Der Begriff Frauenmorde trifft es gut, auch wenn er juristisch nicht ganz präzise ist. Richtig ist aber: Nur wenn wir das Problem klar benennen, bringen wir Kraft in das Thema.
SPIEGEL: Was tun Sie jetzt?
Dr. Franziska Giffey: Wir haben die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder zum Schwerpunkt gemacht. Konkret habe ich als erste Maßnahme einen Runden Tisch einberufen, an dem Bund, Länder und Kommunen mit Fachleuten aus der Praxis zusammenarbeiten.
SPIEGEL: Es gibt seit Jahren eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Wann folgen dem Reden denn mal Taten?
Dr. Franziska Giffey: Das stimmt, und es wurde auch schon viel getan, es gibt etwa das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", an das sich in den ersten fünf Jahren schon mehr als 300.000 Hilfesuchende gewandt haben. Aber es ist wirklich das erste Mal seit Gründung des ersten Frauenhauses 1976, dass sich Bund und Länder gemeinsam mit den Kommunen an einen Tisch setzen, um verbindliche Absprachen zu erzielen. Zu allererst geht es um eine Bestandsaufnahme über Frauenhausplätze, Beratungsstellen und deren Finanzierung. Die letzten umfassenden Zahlen sind von 2012.
SPIEGEL: Waren Sie nicht geschockt, als Sie ins Ministerium kamen und sahen, dass es nicht einmal dieses grundsätzliche Zahlenmaterial gibt?
Dr. Franziska Giffey: Wir brauchen zumindest dringend neue Daten, um gezielt handeln zu können. Ich weiß, wie schwierig es ist, Frauen in Gefahr zu helfen. Als ich Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln war, hatten wir im Jahr mindestens zehn Fälle, in denen wir junge Frauen, häufig mit Migrationshintergrund, komplett aus ihren Familien rausgeholt haben. Sie brauchten eine neue Identität, eine Zufluchtswohnung möglichst weit außerhalb Berlins. Das war immer ein Kraftakt.
SPIEGEL: Schon jetzt ist klar, dass in Deutschland Tausende Zufluchtswohnungen fehlen. Frauenhäuser müssen oft ebenso viele Frauen ablehnen wie sie aufnehmen. Was tun Sie gegen diesen Notstand?
Dr. Franziska Giffey: Wir wollen drei Fragen beantworten: Wie können die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert und vereinheitlicht werden? Wo muss in Frauenhäuser investiert werden? Und was passiert eigentlich nach dem Frauenhaus, wenn die Frauen beim Aufbau eines neuen Lebens Unterstützung brauchen? Mit dem Runden Tisch wollen wir unser Aktionsprogramm gegen Gewalt an Frauen ausarbeiten, das 2019 anlaufen wird.
SPIEGEL: Von den fast 140.000 Gewaltopfern in Deutschland sind immerhin 25.000 Männer. Wo finden sie Hilfe?
Dr. Franziska Giffey: Für gewaltbetroffene Männer gibt es einige sogenannte Männerhäuser, in Oldenburg, Berlin, Leipzig oder Dresden. Groß ist das Angebot aber nicht. Wenn laut Statistik fast ein Fünftel aller Opfer von Partnerschaftsgewalt Männer sind, kann man das nicht ignorieren. Auch da müssen wir mehr tun.