Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Frau Dr. Simonson, liebe Abgeordnete, liebe Gäste, Schön, Sie wiederzusehen! Mit vielen von Ihnen habe ich heute Nachmittag auf die vergangenen fünf Jahrzehnte Altersforschung zurückgeblickt. Heute Abend will ich mit Ihnen auf Gegenwart und Zukunft schauen. Und zwar auf ein Thema, das viel zu selten im Rampenlicht steht - die häusliche Pflege. Und die Frage - wie sind Pflege und Beruf vereinbar? Mich und viele andere hat die Geschichte von Vera Schneevoigt bewegt. Vor zwei Jahren - da war sie Mitte 50 - gab sie ihren Job als Managerin bei Bosch auf. Seitdem kümmert sie sich gemeinsam mit ihrem Mann um Eltern und Schwiegereltern. Für diesen Schritt hat Vera Schneevoigt eine unglaubliche Resonanz erfahren: LinkedIn, Stern, WDR - alle berichteten. Und die Kommentarspalten bersten vor Respekt und Mitgefühl. Warum ist das so?
Nun - irgendwann hält das Thema Pflege Einzug in jede Familie. Von heute auf morgen oder schleichend. Nur: Aufmerksamkeit, Respekt und Mitgefühl - sie begegnen Pflegenden eher selten. Viel zu oft bleiben sie allein mit Belastung, Sorgen, Trauer. Allein übrigens auch mit dem Stolz auf das, was sie tagtäglich wuppen.
Dabei ist häusliche Pflege als Thema doch längst größer, als dass es allein im Privaten, nur an Küchentischen verhandelt werden könnte. Der demografische Wandel und seine Folgen gehen uns alle an. Sie gehören in die Mitte unserer politischen, unserer gesellschaftlichen Debatten! An Küchentische und in den Bundestag. In Bund, Länder und Kommunen. In Unternehmen, Vereine, Kirchen und Stammtische. In Tageszeitungen und auf Social Media.
Liebe Mitglieder des unabhängigen Beirats für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, liebe Frau Dr. Simonson, liebe Mitarbeitende im DZA, Sie widmen sich dem Thema mit langem Atem, Engagement und Haltung! Das beeindruckt mich immer wieder. Danke! Danke auch, dass Sie nicht lockerlassen, uns in der Politik an unsere Hausaufgaben zu erinnern. Denn diese Mammutaufgabe können wir nur gemeinsam bewältigen. Sie alle wissen es: Heute leben in Deutschland rund 5 Millionen pflegebedürftige Menschen. Manche in stationären Einrichtungen. Die allermeisten aber zu Hause: 84 Prozent.
Bis zum Jahr 2050 werden 7,5 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. Mehr Menschen, als heute in Berlin, Hamburg und München zusammengerechnet leben! Und wenn wir nachrechnen, müssen wir vielleicht schlucken. Denn 2050, in 26 Jahren - referieren viele von uns nicht mehr über Pflege. Sondern brauchen vermutlich selbst welche. Das Thema hat eine enorme Sprengkraft - für jeden Einzelnen, das soziale Zusammenleben, für unsere Wirtschaft und Politik. Und gleichzeitig ist mein Eindruck: Es wird derzeit von uns als Gesellschaft nicht hinreichend erfasst.
Es sind große Fragen: Was macht es mit unserer Volkswirtschaft, wenn immer mehr erfahrene Fachkräfte aus ihrem Arbeitsleben ausscheiden, weil sie die Doppelbelastung von Pflege und Beruf nicht länger stemmen können? Wie gehen wir damit um, wenn Menschen sich jahrelang der Pflege ihrer Eltern widmen - und ihnen dann die Altersarmut droht?
Ein Achselzucken reicht da nicht als Antwort! Auch wenn mich Vera Schneevoigts Entscheidung beeindruckt - ihr Modell ist keines für viele. Sie hat das extreme Glück, dass sie sich zumindest finanziell keine Sorgen machen muss. Einfach aus dem Job austeigen - das können sich die allermeisten nicht leisten. Und wir als Gesellschaft übrigens auch nicht. Nein - unser Ziel sollte es doch sein, dass Pflegende gerade nicht kündigen müssen! Dass sich Beruf und Pflege vereinbaren lassen.
Unsere gesellschaftlichen Zukunftsfragen können nicht individuell gelöst werden. Sie brauchen politische Antworten. Wir brauchen echte Verbesserungen. Damit Menschen häusliche Pflege und Beruf vereinbaren können - und wir die demographische Krise bewältigen. Heute Abend steht für mich die häusliche Pflege im Mittelpunkt, die nahestehende Menschen leisten. Das bedeutet aber natürlich nicht, die professionelle Pflege aus dem Blick zu verlieren! Im Gegenteil: Wir brauchen sie dringender denn je!
Wir brauchen Pflegedienste, die zu Hause unterstützen. Und die vielerorts inzwischen schwierig zu finden sind. Wir brauchen eine starke stationäre Pflege. Denn nicht jede pflegebedürftige Person kann und möchte zu Hause gepflegt werden. Und pflegende Angehörige und Nahestehende brauchen Auszeiten - bevor sie an ihre Grenzen stoßen.
In dieser Legislaturperiode haben wir einige Schritte in die richtige Richtung gemacht. Und auf einen Teil des Weges blicke ich durchaus zufrieden zurück. Seit Dezember 2023 ist das Pflegestudiumstärkungsgesetz in Kraft. Mit ihm haben Karl Lauterbach und ich eine Ausbildungsvergütung für Studierende in der Pflege eingeführt. Wir haben dafür gesorgt, dass ausländische Abschlüsse einfacher anerkannt werden können. Mit dem Statement "Pflege kann was". werben wir bundesweit für eine Ausbildung in der Pflege - und wollen die Ausbildungszahlen erhöhen.
Mit dem Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz hat die Bundesregierung im letzten Jahr Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen auf den Weg gebracht. Zum 1. Januar ist das Pflegegeld bereits um fünf Prozent angestiegen - eine weitere Erhöhung steht 2025 an. Und das Pflegeunterstützungsgeld kann einmal jährlich nutzen, wer pflegebedingt kurzzeitig auf der Arbeit ausfällt. Das ist wichtig - denn Pflege ist eben oft nicht planbar.
Gerade hat das Kabinett unseren Entwurf zum Pflegefachassistenzeinführungsgesetz beschlossen. Endlich schaffen wir damit eine bundeseinheitliche Ausbildung zur Pflegeassistenz. Bisher gibt es tatsächlich unglaubliche 27 Ausbildungen in 16 Bundesländern. Mit dem Pflegekompetenzgesetz stehen wir in den Startlöchern. Wir wollen erreichen, dass Pflegekräfte das tun dürfen, was sie können. Wir verbessern so gleichzeitig die Versorgung und machen den Beruf attraktiver.
Ich möchte, dass wir insbesondere die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf in den Blick nehmen. Mit der Leitfrage: Wie können wir pflegende Beschäftigte besser unterstützen? Denn sie leisten täglich einen Spagat zwischen Pflege und Beruf. Mehr als 7 Millionen Menschen pflegen aktuell informell nahestehende Menschen. Und mehr als vier Millionen von ihnen sind gleichzeitig erwerbstätig. Über Vereinbarkeitsprobleme und Doppelbelastung haben wir in den letzten 20 Jahren nur mit Blick auf Mütter und Väter gesprochen. Es ist Zeit, über die erwachsenen Söhne und Töchter zu reden! Denn das Durchschnittsalter unserer Beschäftigten liegt bei 46 Jahren. Und da wandert der Blick langsam von den Kindern hin zu den Eltern.
Freude und Sorgen birgt beides. Doch bei unseren Kindern wissen wir Irgendwann war es der letzte Nachtschreck, der letzte Läusealarm, der letzte Elternabend. Irgendwann ist unser Kind erwachsen - steht auf eigenen Beinen. Und bei der Pflege? Da ist der Ausblick der Tod. "Es ist eine große mentale Belastung, den eigenen Eltern beim Vergehen zuzuschauen" schreibt Vera Schneevoigt.
Diesen Schmerz teilen alle Pflegenden - ob mit oder ohne Vereinbarkeitsproblemen. Und vielleicht ist er einer der Gründe, warum wir uns mit diesem Thema so schwertun. Es konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit. Dieser Konfrontation müssen wir uns stellen - persönlich und politisch. Und das haben wir in unserem Koalitionsvertrag getan - ich zitiere: "Wir entwickeln die Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetze weiter und ermöglichen pflegenden Angehörigen und Nahestehenden mehr Zeitsouveränität, auch durch eine Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingter Auszeiten."
An genau diesem Auftrag haben wir in meinem Haus intensiv gearbeitet. Wir - und hier kann ich für mein ganzes Haus sprechen - wir wollen diese Reform. Wir halten Sie für richtig und wichtig. Und: Sie ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Liebe Zuhörende, seit Dezember 2021 hat sich viel geändert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns im Februar 2022 ins Mark getroffen und erschüttert uns bis heute. In rasender Geschwindigkeit haben wir Lösungen gesucht. Lösungen gefunden. Und den Preis für das vermeintlich billige russische Gas der vorherigen Jahre und Jahrzehnte bezahlt. Im November 2023 hat dann das Bundesverfassungsgericht geurteilt: Ursprünglich für die Corona-Pandemie vorgesehene Mittel dürfen nicht für den Klima- und Transformationsfonds umgewidmet werden. Das Resultat? Eine gewaltige Haushaltslücke.
Ich möchte ganz klar sagen: Wir brauchen eine Reform der Familienpflegezeit. Wir brauchen signifikante Verbesserungen für die schon jetzt über 4 Millionen pflegenden Erwerbstätigen. Die Reform bleibt unser Ziel. Für sie werden wir in den nächsten Monaten weiter den Boden bereiten und einen Gesetzentwurf erarbeiten. Wir werden weiter um Unterstützung werben - auch über Parteigrenzen hinweg. Denn: Dieses Zukunftsvorhaben kann jeden und jede betreffen. Wir brauchen einen überparteilichen Konsens. Und für diesen brauchen wir mehr Zeit. Womöglich über diese Legislaturperiode hinaus.
So viele von Ihnen setzen sich für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf ein. Ob im Bundestag, in den Verwaltungen, in Verbänden, in Medien und Forschung. Ich weiß Sie an unserer Seite! Der unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf war für mich in den vergangenen zweieinhalb Jahren ein so wichtiger Ratgeber. Ich freue mich, einige von Ihnen heute hier wieder zu sehen. Wir stimmen überein: Das Familienpflegezeitgesetz und das Pflegezeitgesetz sind für pflegende Beschäftigte schon heute eine wichtige Unterstützung. Aber: Die aktuellen Regelungen reichen nicht. Nicht, um Pflege und Beruf verlässlich zu vereinbaren. Nicht vor dem Hintergrund des demographischen Wandels.
Im September war ich beim Unternehmenstag unseres Netzwerks „Erfolgsfaktor Familie" zu Gast. Er hat mir einmal mehr gezeigt - eine bessere Vereinbarkeit liegt auch im Interesse der Arbeitgeber. Schon jetzt sind pflegende Beschäftigte überall. Sie benötigen Rücksicht auf spontane Betreuungsbedarfe und verlässliche Arbeitszeiten. Und wünschen sich die gleiche Anerkennung wie Eltern. Denn allzu oft noch ist Pflege ein Tabu.
Fachkräfte gewinnen, Fachkräfte halten - das wird in Zukunft eben auch davon abhängen, wie gut sich Erwerbsarbeit und Pflege miteinander vereinbaren lassen. Welche Verbesserungen brauchen wir heute? Für welche Reform der Familienpflegezeit wollen wir den Boden bereiten - und werben um Ihre Unterstützung?
Erstens. Die Freistellungsregelungen sollten gut handhabbar sein. Aktuell finden sie sich in zwei Gesetzen. Einerseits eng miteinander verzahnt. Andererseits unterschiedlich ausgestaltet. Diese Regelungen wollen wir zusammenführen und vereinfachen. Und damit die Orientierung für pflegende Beschäftigte und ihre Arbeitgeber erleichtern.
Zweitens. Die Freistellungsansprüche sollen sich an der Pflegerealität orientieren - und zwar bei verschiedenen Fragen:
Wer pflegt? Bisher können sich Beschäftigte nur freistellen lassen, wenn sie nahe Angehörige pflegen. Doch sollte das wirklich unser Kriterium sein? Ich finde nein. Nähe ist so viel mehr als ein gemeinsamer Stammbaum. Alle Menschen, die für ihre Lieben Verantwortung übernehmen, sollten freigestellt werden können. Damit fördern wir im Übrigen auch, dass sich Pflege auf mehr als zwei Schultern verteilt.
Welche Zeit braucht Pflege? Pflege ist nicht planbar, nicht vorhersehbar. Ein Sturz, ein Schlaganfall - und alles ist anders. Ohne Vorwarnung. Von jetzt auf gleich. Für alle Beteiligten. Wir brauchen also Freistellungsregelungen, die das berücksichtigen. Wir brauchen mehr als die maximal zwei Jahre Freistellung ohne Unterbrechungsmöglichkeit für Pflegende. Da bin ich mit dem unabhängigen Beirat einer Meinung.
Und ich finde auch, die Freistellungszeiträume sollten nicht nahtlos aneinander anschließen müssen. Denn so können sich mehrere Personen Pflege leichter teilen. Damit entlasten sie sich gegenseitig. Und im Übrigen auch ihre Unternehmen.
Und was passiert am Lebensende? Liebe Zuhörende, wenn ein Mensch stirbt, dem wir nahe sind - dann ist unser Platz an seiner Seite. Dabei geht es nicht darum, alles richtig zu machen. Doch da sein kann niemals falsch sein. Diese Zeit, diese unwiederbringlich letzten Stunden und Tage. Sie sind schmerzhaft und wertvoll gleichermaßen. Für uns - und für die Person, die uns verlässt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Als Abgeordnete war ich in einer privilegierten Situation: Ich konnte mir meine Zeit flexibel einteilen. Und genau das brauchen Angehörige und Nahestehende für diese letzte Lebensphase: Zeit. Sie sollten sich wie bisher freistellen lassen können. Doch diese Zeit sollte künftig nicht mehr auf die Freistellungen der Familienpflegezeit und Pflegezeit angerechnet werden.
Ein dritter Punkt fehlt mir noch für unsere zukunftsgerechte Familienpflegezeit. Wenn Erwerbstätige ihre Arbeitszeit für die Pflege teilweise oder auf null reduzieren - dann brauchen sie finanzielle Unterstützung. Sie brauchen eine zeitlich begrenzte Entgeltersatzleistung. Ähnlich wie dies beim Elterngeld der Fall ist. Und die sollte so ausgestaltet sein, dass mehrere Personen sich die Pflege teilen können, wenn sie das wollen. Wenn die Pflege auf mehrere Schultern verteilt werden kann, käme das insbesondere Frauen zugute - die ja meistens pflegen. Sie könnten leichter wieder zu ihrer ursprünglichen Arbeitszeit zurückkehren. Ökonomisch eigenständig bleiben und Altersarmut vermeiden.
In meinem Haus arbeiten wir weiter an der Reform der Familienpflegezeit. Und damit komme ich auf Sie zurück, liebe Zuhörende. Denn diese Verbesserungen brauchen eine breite Unterstützung. Sie brauchen uns alle. Darum haben wir für das Frühjahr 2025 ein Symposium geplant. Mit Politik aus allen Parteien, Fachpraxis, Verbänden und Wissenschaft. Mitbringen werden wir Erkenntnisse des Fraunhofer Instituts. Die Expertinnen und Experten untersuchen aktuell in unserem Auftrag, welche positiven langfristigen Effekte eine Entgeltersatzleistung mit sich bringt. Das ist wichtig für die Fragen, wie wir die Reform ausrichten und welche finanziellen Grundlagen sie braucht - wie von mir heute skizziert. Wir erwarten die Ergebnisse bis Ende des Jahres. Sie sind ein wichtiger Aspekt für den überparteilichen Konsens zur Familienpflegezeit, den wir mit dem Symposium sichtbar machen wollen. Ich lade Sie jetzt schon sehr herzlich ein. Wir brauchen Austausch. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung aller demokratischen Kräfte.
Vera Schneevoigt hat vergangenen Monat ein Buch veröffentlicht. Es heißt: "Wir können Zukunft". Und diesem Optimismus möchte ich mich ausdrücklich anschließen. Wir sehen, was ist. Wir haben das Wissen. Und die Werkzeuge - die liegen bereit. Gemeinsam, mit Mut und Entschlossenheit, packen wir es an. Danke, dass Sie heute hier sind. Und danke für Ihre Aufmerksamkeit.